Warum Mexiko gerade der beste Ort für Olivers Heilung ist
- Stefan

- 14. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Oft sitze ich abends, wenn alle Kinder schlafen, vor dem PC. Ich denke mir, warum kann ich nicht einfach loslassen und einen Abend lang auf dem Sofa sitzen, so wie früher. Es geht nicht. Meine Gedanken und Emotionen sind immer bei unserer Situation, bei unserem Leben mit und um Oliver herum.
Es ist meine Therapie geworden, irgendetwas zu tun, das mit der Aufarbeitung all dieser Ereignisse zu tun hat. In den letzten fast sechs Monaten habe ich emotional komprimiert mehr erlebt als in meinen fast 44 Jahren davor. Ich hatte mein Kind direkt nach dem Unfall tot in den Händen. Ich habe mitten in der Nacht aus dem Krankenwagen meine Eltern in Deutschland angerufen und unter Tränen gesagt, dass wir einen Unfall hatten und Oliver tot ist.
Es war ein Anruf, vor dem ich immer Angst hatte. Ich dachte immer, irgendwann würde einer meiner Eltern anrufen und sagen, dass der andere Teil von uns gegangen ist. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an diesen Anruf der Verzweiflung denke. Danach habe ich zwei Herzstillstände miterlebt, den Schlaganfall, bei dem Oliver komplett weg war, sein Blick leer. Das sind Momente, die grausamer sind, als man sie sich vorstellen kann.
Und genau deshalb verarbeite ich all das, indem ich darüber schreibe. Vieles bleibt in meinem privaten Tagebuch. Manches teile ich hier in diesem Blog.
Diese Erlebnisse werden für immer da sein. Sie sind nun ein Teil von mir, und ich muss lernen, sie zu akzeptieren. Ich denke oft daran, was wäre wenn. Wo wäre Oliver jetzt, was würde er alles können. Stattdessen hat er nun ein halbes Jahr seines Lebens von davor verloren.
Genau deshalb sind wir auch immer noch hier in Mexiko. Natürlich wäre eine Rückkehr nach Deutschland inzwischen möglich. Oliver könnte jetzt sicherer transportiert werden als vor den Operationen in Chicago. Vielleicht kann er sogar bald seine Halskrause ablegen. Aber trotzdem ist eine Rückkehr für uns kein Thema.
Wir haben inzwischen alles der Genesung von Oliver untergeordnet. Wir haben weitreichende Entscheidungen getroffen – unser Familienauto, den Multivan, verkauft und auch unser Haus. Ende November habe ich in Deutschland einen Notartermin. Ich freue mich nicht darauf, weil es bedeutet, dass ich Oliver hier zurücklasse und in unser Haus zurückkehre, in dem wir so viele Jahre voller schöner Erinnerungen verbracht haben. Aber das wird Thema eines anderen Blogeintrags sein.
Warum also schließen wir aus, bald nach Deutschland zurückzukehren, obwohl das Reisen theoretisch möglich wäre? (Über die Reisekosten sprechen wir gar nicht, denn es ist ohnehin keine Option.)
Unser Haus in Deutschland ist ein Reihenmittelhaus. Auf wenig Grundfläche erreicht man Wohnraum, indem man in die Höhe baut. Das bedeutet viele Treppen – mit ausgebautem Keller und Dachgeschoss vier Stockwerke. Für uns war es perfekt, wir haben es genau nach unseren Bedürfnissen hergerichtet. Vor einem Jahr haben wir noch eine Solaranlage aufs Dach gesetzt, um langfristig Geld zu sparen. Laut meiner Excel-Tabelle hätte sich das Ganze nach 9,5 Jahren amortisiert.
Aber jetzt verkaufen wir unser Zuhause, nach nur einem Jahr. Alles, was wir dort eingebaut und erlebt haben, geben wir auf. Ein barrierefreier Umbau ist nicht möglich. Im Erdgeschoss sind nur Küche und Wohnzimmer, und selbst die Toilette ist nur über drei Zwischentreppen zu erreichen. Außerdem liegt unsere Garage nicht direkt am Haus, sondern unten an der Straße. Oliver ins Auto zu bringen würde bedeuten, dass wir bei Regen oder Schnee nass werden. Und allein das Einsteigen ist ohnehin schon kompliziert.
Dann kommt die Pflegesituation. Ja, Oliver hätte in Deutschland die höchste Pflegestufe. Aber wer soll ihn rund um die Uhr betreuen? Der Markt an Pflegekräften ist leer. Oliver braucht ständige Aufsicht. Man kann ihn nicht mal eine Minute allein lassen, weil er in dieser Zeit über eine ungewollte Bewegung seine Beatmung lösen könnte.
Der wichtigste Grund aber ist: Oliver hat hier in Mexiko – und allgemein hier auf dem amerikanischen Kontinent – bessere Chancen auf Heilung.
Ich meine damit nicht nur Mexiko, sondern das Umfeld, die Nähe zur USA, die medizinische Dichte und Spezialisierung.
Hier in Mexiko hat Oliver in Phase 3 die besten Voraussetzungen. Er bekommt aktuell täglich drei verschiedene Therapien von drei Therapeuten. Ein Intensivmediziner kommt alle zwei Wochen vorbei, dazu ein Urologe, eine Ernährungsberaterin und ein Arzt, der auf Beatmung und Entwöhnung spezialisiert ist. All das passiert hier, bei uns zuhause. In Deutschland wären solche regelmäßigen Hausbesuche kaum vorstellbar. Natürlich hat das hier seinen Preis, aber wir bekommen dafür genau die Unterstützung, die Oliver jetzt in dieser Phase am meisten hilft.
Die fünf Phasen nach einer Rückenmarksverletzung
Phase 1 ist die kritischste. Es geht einzig darum, das Leben zu retten.
Phase 2 ist der Moment, in dem das Rückenmark langsam wieder „anschaltet“. Direkt nach dem Unfall geht der Körper in einen sogenannten spinalen Schock. Das bedeutet, dass alle Signale blockiert sind – der Körper zeigt keinerlei Reflexe. Erst in Phase 2 beginnen sie wieder.
Jetzt sind wir in Phase 3 – der Rehabilitationsphase.
Hier geht es darum, dass das Gehirn neu lernt. Die ursprünglichen Nervenverbindungen sind unterbrochen, und der Körper muss neue Wege finden. Ein Kleinkind wie Oliver hat noch eine hohe Neuroplastizität, also die Fähigkeit, neue Verbindungen zu bilden, wenn alte zerstört sind. Genau das kann man fördern – durch Physiotherapie, Reizstrom und Atemtraining.
Aus diesem Grund sind wir in Mexiko geblieben. Laura hat in den letzten Wochen fast täglich mit Therapeuten und Ärzten gesprochen, um den besten Plan für die kommenden sechs Monate zu erstellen.
Phase 4 ist die Phase, die uns wieder zurück nach Chicago führen wird – diesmal aber nicht für eine Operation oder Intensivstation. Dieses Mal, um Dinge auszuprobieren, die zu den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen gehören: die Stammzellentherapie.
Dr. Bydon ist nicht nur Neurochirurg, sondern auch einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Noch gibt es kein sicheres Mittel zur Heilung solcher Verletzungen, aber mit jedem einzelnen Fall lernen die Forscher mehr. Oliver wird das erste Kind in diesem jungen Alter sein, das eine solche Behandlung erhält.
Was erhoffen wir uns?
Wir hoffen, dass sich durch die Stammzellen neue Nervenbahnen an der Unfallstelle bilden oder bestehende Verbindungen wieder aktiviert werden. Es gibt viele Studien, in denen Erwachsene nach einer Stammzellentherapie plötzlich Bewegungen machen konnten, die sie jahrelang nicht mehr konnten. Diese Menschen nennt man Superresponder – also Personen, die außergewöhnlich gut auf eine Therapie reagieren.
Dann gibt es die mittlere Gruppe, bei der kleine Verbesserungen auftreten, und jene, bei denen sich nichts verändert.
Risiken? Keine bekannten.
Das eigentliche Risiko ist, dass der Versuch vielleicht nicht belohnt wird. Aber wenn die Chancen bei zehn Fällen bei fünf Superrespondern, drei mittleren und zwei ohne Erfolg liegen, dann ist es – auf Deutsch gesagt – ein No-Brainer, also eine Entscheidung, über die man nicht lange nachdenken muss.
Warum Menschen unterschiedlich auf dieselbe Therapie reagieren, ist noch unklar. Genau daran forscht Dr. Bydon – und vielleicht kann Oliver dazu beitragen, diesen Schlüssel zu finden.
Phase 5 – die emotionale Phase
Und dann gibt es noch die fünfte Phase – die emotionale.
Sie beginnt eigentlich schon in der ersten. Es ist die Phase der Hoffnung und der Liebe.

Heilung passiert nicht nur im Körper, sondern auch im Kopf.
Als Oliver nach 39 Tagen aus dem Krankenhaus in Mexiko zu meinem Schwiegervater kam, haben wir a seiner Tür ein Schild aufgehängt: „Hier wohnt ein Superheld. Tränen sind nur erlaubt, wenn sie aus Freude sind.“
Oliver ist zwei Jahre alt. Er weiß nicht, wie schlimm seine Verletzung ist. Er weiß nicht, wie kritisch es um ihn stand. Und genau deshalb versuchen wir, ihm jeden Tag vorzuleben, dass das alles nur vorübergehend ist.
Meine letzten Worte zu ihm, bevor er einschläft, sind immer dieselben:
„Oliver, wir beide werden zusammen einen Marathon laufen, und bald spielen wir wieder mit Lego und bauen ein Haus, so wie früher.“
Vielleicht klingt das im Moment unrealistisch. Aber Oliver glaubt daran.
Und vielleicht ist er damit wie eine Hummel.
Lange dachte man, sie könne nach den Gesetzen der Physik gar nicht fliegen.
Heute weiß man: Sie kann es sehr wohl – nur auf ihre ganz eigene Weise.
So wie Oliver.
Und genauso sehe ich meinen Oliver. #theskyisthelimit


















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